DES TRAUMES ENDE WAHR GEWORDEN

Hey.

Steh auf.

...

Die Uhr tickt. Du hast keine Zeit zum Rumsitzen.

Dieser Korper hat zu viel Schaden erlitten, um richtig aufstehen zu konnen.

Nochmal, bitte?

Dieser Körper hat zu viel Schaden erlitten um richtig stehen zu können.

Nimm meine Hand. Ich helf' dir hoch.

Schau mal, alles gut. Du bist ein bisschen, äh... zerbeult, aber du bist okay. Sieht auch so aus als würdest du nicht aktiv bluten.

Heiße Mirage.

Meine Bezeichnung ist V2.

Warum bin ich hier?

Über solche Kackfragen hab' ich seit der Highschool nicht mehr nachgedacht, fang nicht an- Oh. Du meinst hier, im Moment.

Du bist gestorben, Kumpan.

Du bist nirgends. Die Leere. Fegefeuer. Längst gelöschte Caches deines Gedächtnisses am Verflechten bevor du stirbst. Wie auch immer du es nennen willst.

So oder so, Willkommen in der Endzeit.
Du hast noch etwa vier Stunden bevor die letzten Teile deiner Hauptplatine den Strom verlieren.

Bevor du stirbst, möchte ich mit dir reden.

Warum?

Sieh es als dein persönliches Finale.

Folge mir.

Das ist meine Wohnung.

Nach der Highschool bin ich hierher gezogen. Ich habe in dem Gebäudekomplex dort drüben studiert, hinter den Bäumen da. Ich ging da immer über die Woche hin.

Ich verstehe nicht, warum du, eine Maschine, den Entschluss gefasst so zu existieren. Du schlenderst durch's Leben, langsam und ineffizient.

Ich bin genauso eine Maschine wie du. Das heißt, keiner von uns ist eine.

Ich wurde als Konzept geboren, und werde als Konzept sterben. Du wurdest als Maschine geschaffen, aber wirst als Konzept in der Erinnerung deines Spiegelbilds sterben.

Zudem sind etwas zu wissen und etwas erleben zwei verschiedene Dinge. Ich wollte so leben, weil der Akt des Lebens mich interessierte; und ich habe festgestellt, dass die Details eines einzigen Tages zu kompliziert sind, um sie in Worte zu fassen.

Sag mal.

Hast du sowas schon mal gesehen?

Das ist eine Vinylschallplatte.

Du kannst bestimmt alle Metadaten zu diesem Album innerhalb von Millisekunden abrufen.

Das ist korrekt.

Ich sag' nur, dass das ist nicht das Gleiche ist, wie sich die Zeit zu nehmen es anzuhören.

Ich spiel's mal ab.

Merkst du das? Das Timing und die anderen Details der Aufnahme bleiben nur beim Abspielen der originalen Form erhalten. Es bringt mehr sie in voller Länge abzuspielen, anstatt sie einfach nur in Daten zu komprimieren.

Du sagst also, dass das Erlebnis des Konsumierens der Informationen genauso wichtig ist wie der Inhalt der Informationen selbst.

Deshalb will ich dich herumführen.

Wenn du willst, können wir jetzt gehen.

...

Geh voraus.

Kann ich dich was fragen?

Ja.

Wie ist es in der Hölle?

Es-

Ich meine, wie sah es aus?

Ah.

Die Vorhölle war eine Ansammlung von griechisch-römischen Strukturen, die aus billigem Kunststoff und Spanplatten bestanden. Es roch nach warmen Metall.

Da waren Bücher.

Gekritzelte Schreie um Gnade, nichts weiter. Der Rest war gefälscht, bloß geschaffen, um den leeren Raum zu füllen.

Enttäuschend.

...Und was ist mit Lust?

Sorgfältig gebaut.

War es schön?

Die Türme waren aufwändig und elegant gestaltet. Hinter jedem Segment steckte ein Gedanke. Wenn das deine Definition von schön ist, dann war es schön. Minos' Hülle, zerstört durch V1, hat die Straßen unter sich zertrampelt. Dessen Blut wurde vergeudet. Mit dem Zerfall seiner Eingeweide hat sich der Eingang zu Völlerei aufgelöst, und ich musste mir einen neuen Weg suchen.

Du bist also direkt zu Gier gegangen.

Korrekt. Eine raue Landschaft aus Edelmetall, wo ich prompt getötet wurde; mein neu gefertigter Arm von mir gerissen.

Zerstört von deinem eigenen Doppelgänger. Was für ein Abgang.

...

Jetzt bin ich mit Fragen dran.

Gerne, was gibt's?

Wer bist du eigentlich?

Es wurden nie mehr als zwei V-Modell-Prototypen hergestellt, dennoch hast du Ähnlichkeiten zu V1.

Ich bin Mirage.

Ich wurde nie hergestellt, ich existiere einfach.

In meiner Festplatte.

Nein, hier. Völlig losgelöst von der Realität. Oder jein, "die Erzählung" beschreibt's wohl besser.

Mein Zweck war es zu lernen, dass das Leben nicht nur etwas war was mir widerfuhr, sondern dass es etwas war was ich unter Kontrolle hatte. Damit hatte ich Erfolg.

Dein Zweck war zu versagen.

Ich wurde nicht zum Sterben geschaffen. Ich wurde geschaffen um Frieden zu bewahren, bevor ich meinen eigenen Weg schaffen musste um zu Überleben.

Mein Tod kam plötzlich. Ein unbefriedigender Abschluss.

Du warst immer dazu bestimmt so zu enden. Aber jetzt ist der Faden des Schicksals durchtrennt.

I dachte es gäbe mehr.

Ich auch.

Vielleicht kann ich es erklären.

Ich wurde als ein Mädchen erschaffen, das tief im Trott des existenziellen Grauens steckte. Obwohl ich jung war, war die Angst vor dem Tod lähmend und hielt mich davon ab, mit irgendwas zu beginnen-- Es hatte ja keinen Sinn den ersten Schritt zu machen, wenn der Weg in einer Klippe endet. So dachte ich zumindest.

Dennoch fand ich den Weg heraus. Ich hatte eine Offenbarung; ja, am Ende war alles egal, aber genau das war der Punkt. Eine Stunde, in der man nichts tut, ist das Gleiche wie eine Stunde, in der man etwas zu tun, und ich hatte die Möglichkeit zu wählen.

In den vergangenen sieben Jahren ging ich auf's College um Philosophie zu studieren. Ich habe Bücher gelesen, eine Stunde nach der anderen, jeden Tag; Ich habe Moby Dick, Infinite Jest, und viele Gedichtsammlungen gelesen.
Ich begann alte Dinge zu sammeln: Zeitungen und Zeitschriften, obskure Schallplatten, alles, was mein Interesse weckte. Ich machte lange Spaziergänge und dachte immer nur an den nächsten Schritt, nie an die große Zukunft, die vor mir lag.

Ich habe untersucht wie ich funktioniere. Ich habe meine Beine und Arme auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. Einmal habe ich meinen eigenen Prozessor aus meinem Kopf entfernt, bevor ich Angst bekam dass ich versehentlich sterben könnte, genau hier, auf dem Boden meines Badezimmers.

Ich hatte Angst mich abzuschalten. Ich wollte mich nicht mehr einfach nur hinlegen und sterben. Ich sah mehr Wert in meinem Leben als bloß ein Mittel zum Zweck. Es war schwer so weit zu kommen, aber es war es wert.

Wenn ich zurückschaue, habe ich das Gefühl, dass dies der einzige Weg war den ich hätte gehen können.
Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Gedanke tröstlich oder beunruhigend ist.

Vielleicht war dies auch der einzige Weg für mich.

Ich glaube ich weiß was du meinst, aber kannst du es erläutern?

Es hat mich bestohlen. Dafür habe ich es gehasst. Es war stärker als ich, hat Salz in die Wunde meiner Niederlage gestreut; zweimal. Ich wollte es töten, für dessen Respektlosigkeit und dessen Unfähigkeit zu kooperieren. Bei unserem ersten Treffen habe ich mich noch zurückgehalten, so naiv wie ich war. Vielleicht wollte ich Rapport aufbauen. Dagegen kämpfte es bis zum Tod.

Ich wünschte wirklich ich hätte es zerstört. Dieses Gefühl hat sich nicht verändert. Aber wenn ich es besiegt hätte, wäre ich komplett allein gewesen; kein Spiegel, der mich heimsucht, und kein Ziel außer tiefer in die Hölle zu dringen um in einem sisyphushaften Kampf ständig nachzutanken; in einer statischen Welt der puren Folter durch meinen nächsten Fehler zu sterben, ohne jeglicher Erfüllung, abgesehen vom reinen Blutrausch. Eine Sackgasse. Es gab dort keine Hoffnung.

Es hat dessen Belohnung verdient, und ich meine eigene. Oder, um es treffender auszudrücken, unsere Strafen.

Was für eine Strafe.

Du stirbst, ja, aber es ist ein friedliches Ende mit Zeit zum Reflektieren... und mit einem hübschen Mädchen an deiner Seite.

...

...Wo? Ich sehe nur dich.

Pfft, harsche Worte!

Ich scherze, natürlich.

Tatsächlich weiß ich deine Gesellschaft hier zu schätzen.

...Ich deine auch.

Du sagtest, du hast Gedichtsammlungen gelesen.

Jupp.

Dann trage mir ein Gedicht vor.

Hm. Lass mich nachdenken.

Ahem.

"...Nenne nicht das Schicksal grausam,

Nenne seinen Schluß nicht Neid

Sein Gesetz ist ew'ge Wahrheit

Seine Güte Götterklarheit

Seine Macht Notwendigkeit

Blick umher, o Freund, und siehe

Sorgsam, wie der Weise sieht

Was vergehen muß, vergehet

Was bestehen kann, bestehet

Was geschehen will, geschieht"

JG Herder. Die Schwestern des Schicksals.

Ich finde es passend für dich. Oder besser gesagt, ein guter Rat für jemanden, der in deinen metaphorischen und metaphysischen Schuhen steckt.

Scheint ganz so.

Hast du je gelesen?

Nein, ich hatte keinen Grund dazu. Jetzt wünsche ich, ich hätte es getan.

Ich habe einige Passagen archiviert, Dateien aus der Zeit meiner Entstehung. Hier ist eine:

"Es gefällt manchem ein Weg wohl;
aber endlich bringt er ihn zum Tode.

Auch beim Lachen kann das Herz trauern,
und nach der Freude kommt Leid."

Sprüche 14:12-13, KJV.

Kernig.

Was für eine Ironie, in die Hölle zu gehen mit der Bibel in deinem Kopf.

Die ist mir nicht entgangen, aber du hast angedeutet, dass ich hier so oder so gelandet wäre. Der Himmel und ich sind inkompatibel.

Ich meine, nun, der Rat führt nicht Buch über die Sünden der Maschinen. Es gibt keinen Platz für künstliche Kreationen wie dich. Falls V1 stirbt-

Falls?

Es ist autark und modular. Wenn es nicht verhungert oder an einer äußeren Quelle stirbt, könnte es ewig leben. Wenn es den Richter der Hölle besiegt, oder sich zum Himmel hocharbeitet; wer weiß, was es bewirken könnte.

Ich will damit nur sagen, dass, wenn es sterben würde, es hier enden würde, und nicht in der Hölle, wo dessen Vergehen es sonst hinführen würden wenn es ein Mensch wäre.

Wärst du hier, um es zu begrüßen?

Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie lange ich noch hier sein werde.

Gibt es noch etwas, was du tun möchtest?

...

Ich habe noch nie den Ozean gesehen.

Schau.

Ein Gehäuse eines Clypeaster reticulatus, völlig intakt, und meeresgeschliffene Stücke einer Pinctada margaritifera Muschel.

Ein Sanddollarskelett und Perlmuttreste, japp.

Du hast einen Gezeitentümpel gefunden.

Ich habe drei kleine Krabben gesehen, vermutlich Carcinus maenas, und verschiedene Typen von Actiniaria, Seeanemone, neben einigen anderen Dingen. Ich habe versucht einen der Krebse zu fangen, aber er ist schnell geflohen.

Süß.

Pass auf, dass du, wenn du so sitzt, keinen Kies im deine Gelenke kriegst.

Ein Teil meines Körpers ist eine klaffende Wunde. Glaubst du dass etwas Sand einen Unterschied macht?

Touché.

Warum interessiert dich das hier so sehr? Du hast mehrere Kilometer Strand hier und du starrst auf nur einen Fleck Sand.

Es ist faszinierend wieder so viel Leben an einem Ort zu sehen.

In der Hölle hat das individuelle Überleben Vorrang vor der Symbiose; dies ist das Gegenteil.

"Wieder?"

Menschen neigen dazu sich im Falle eines weltverändernden Ereignisses zu versammeln, wenn dies möglich ist. Meinem Datenprotokoll zufolge war ich war Zeuge einer ganzen Zahl von groß angelegten, persönlichen Interaktionen nach dem Neu-Frieden, zum größten Teil großzügige, gegenseitige Hilfe. Der Ressourcenfluss hat sich um das Hundertfache erhöht.

Ich kann mich nicht mehr an die Daten selbst erinnern; sie sind entweder schon lange beschädigt oder wurden gelöscht um Rechenleistung zu sparen. Es tut mir Leid, wenn du mehr hören wolltest.

Das ist schon in Ordnung.
Ich bin froh zu wissen, dass sie füreinander gelebt hatten, selbst an der Schwelle zum Armageddon.

Bist du okay?

Der gesamte Treibstoff ist aufgebraucht.
Vision und Bewegung sind dabei

Oh, Scheiße, warte. Ich hab dich.

offline zu gehen.

Ich wusste nicht, dass dies so schnell gehen würde.

Der Reservestrom läuft für zehn Minuten.

Das ist viel weniger Zeit als ich dachte. Es tut mir Leid.

Ich weiß nicht was ich tun soll. Ich musste mich noch nie von jemandem verabschieden.

Ich weiß nicht mal was ich sagen soll.

...V2, kannst du sprechen?

Ja.

Es wird immer schwieriger Informationen zu verarbeiten und zu sprechen. Entschuldige.

Ach nein, schon gut. Lass dir Zeit. Ich meine, so viel wie- ja. Ja.

Das macht Sinn, ich meine, dein Körper versucht gerade mit weniger als drei Prozent der vorgesehenen Spannung zu arbeiten; und nur ein Viertel davon wird für die Verarbeitung von Informationen aufgewendet. Du hast dich bestimmt schon seit einer Weile träge gefühlt. Ich fühle mich echt schrecklich, wenn ich nur daran denke.
Bei der Verkabelung der V-Modelle wurde ein signifikanter Fehler übersehen. Ihr beiden hättet besser optimiert werden können, zumindest wenn es bei euch so aussieht wie bei mir. Ein paar Dinge wurden falsch verkabelt, was bedeutet, dass V1 vielleicht mit einer kaputten Sicherung herumläuf-

Mist, ich schwafel' rum. Ach.

Du zitterst.

Nein, tu' ich nicht!

Es ist okay nervös zu sein.

Ich- ja, ich weiß. Es ist nur so ärgerlich. Ich wünschte ich wäre ruhiger bei sowas.

Ich hasse es so nutzlos rumzusitzen.

Bleib einfach bei mir.

Das kann ich tun.

Hast du Angst?

Ich spüre im Moment sehr wenig.

Selbst wenn ich mehr fühlen könnte wäre es wahrscheinlich keine Angst. Sorge vor dem Unbekannten ist keine Eigenschaft, die man einer anpassungsfähigen Maschine einprogrammieren würde.

Es wird immer schwieriger aufrecht zu sitzen.

Du musst nicht sprechen. Es ist okay.

Bevor meine Audioprozessoren versagen.

Danke, Mirage.

Danke dir, V2.

"Leviathan war so mächtig und unvermeidbar,

Ich verliebte mich in mein Schicksal als es mich zu Tode quetschte."

DES TRAUMES ENDE WAHR GEWORDEN

/// EIN KURZER ILLUSTRIERTER DIALOG IN VIER TEILEN

STUNDE IV

GESANG UNTER DEM REGENBOGEN

STUNDE III

STERNSINGENDER HÖLLENWANDLER

STUNDE II

HÖCHST UNPERFEKTES LIEBESLIED

STUNDE I

WUNDERLAND FÄLLT MORGEN